Geschichte der Sternwarte
Seeliger – Venusdurchgänge
Schon in jungen Jahren war der aus Biala (Österreichisch-Schlesien)
stammende Seeliger maßgeblich an der Beobachtung eines astronomischen
Jahrhundertereignisses beteiligt, nämlich dem des Venusdurchgangs
im Jahre 1874.
Das 1870 ausgerufene deutsche Kaiserreich hatte sofort die
Möglichkeit ergriffen, sich wissenschaftlich hervorzutun und in
diesem Zusammenhang fünf Expeditionen ausgerüstet.
Man war sich einig, einen eigenständigen Satz von Beobachtungen
anzustellen, der es erlaubte, auch ohne auf die Messergebnisse
der Expeditionen anderer Nationen zurückgreifen zu müssen,
die Sonnenparallaxe und damit die Entfernung Erde–Sonne genauer
bestimmen zu können.
Da der Transit im Längenbereich des Indischen Ozeans am besten
zu beobachten war, wählte man Yantai, eine Hafenstadt südöstlich
von Peking, Isfahan in Zentralpersien, die Kerguelen und die
Auckland-Inseln sowie die in angenehmeren Breiten liegende Insel
Mauritius als Beobachtungsstandorte aus.
Zum Leiter der Expedition zu den Auckland-Inseln wurde der erst
24-jährige Seeliger, damals Observator an der Sternwarte Bonn,
ausgewählt.
Die kleine, unbewohnte vulkanische Inselgruppe ca. 500 km südöstlich
der Südspitze Neuseelands, war erst 1806 von Walfängern entdeckt
worden.
Besiedlungsversuche durch Europäer in den 1850er Jahren waren ebenso
gescheitert wie solche durch Maoris ca. 600–700 Jahre vorher.
Die Inseln waren 1863 von Großbritannien ihrer Kolonie Neuseeland
zugeschlagen worden und wurden 1998 von der UNESCO zum Weltnaturerbe
erklärt.
Seeliger schiffte sich am 13. Juli 1874 in Brindisi ein und
erreichte nach der Passage des Ende 1869 eröffneten Suezkanals schon
am 23. August Melbourne, wo er sich um ein dort nach Plänen der
Kaiserlichen Werft in Kiel gebautes hölzernes Wohnhaus kümmerte und
versuchte, ein passendes Schiff für die Fahrt zu den Auckland-Inseln
zu finden.
Die restlichen fünf Expeditionsteilnehmer starteten am 11. Juli mit
der gesamten Ausrüstung (Teleskope, Uhren, eiserne Beobachtungstürme,
Dunkelkammer etc.) von Hamburg nach London, segelten von dort um
das Kap der Guten Hoffnung und erreichten nach 53 Tagen auf See am
19. September Melbourne.
Der Aufenthalt dort wurde auch genutzt, um an dem 1862 von Neumayer
gegründeten Melbourne Observatory die Gänge der acht
mitgeführten Chronometer zu bestimmen.
Mit viel Mühe gelang es Seeliger schließlich, die französische Bark
Alexandrine, einen Hochseefrachtsegler, für die Reise zu den
Auckland-Inseln zu chartern, die man schließlich nach 12 Tagen Fahrt
am 3. Oktober 1874 erreichte.
Nach der Ankunft an der Terror Cove, einer Bucht auf der
etwa 40 km langen und 12 km breiten Hauptinsel, musste wegen des
dicht bewachsenen, ungangbaren und unübersichtlichen Geländes
die Station unmittelbar am Ufer errichtet werden, nicht weit von der
Stelle, an der von 20. November bis 12. Dezember 1840 der englische
Entdeckungsreisende Sir James Clark Ross (1800–1862) auf seiner Fahrt
in die Antarktis mit seinen Schiffen Erebus und Terror
Station gemacht hatte, um dort geographische, botanische, zoologische
und erdmagnetische Studien zu betreiben.
Wie man Seeligers penibel geführtem Dienst-Tagebuch entnehmen
kann, begann nun eine Periode schwerer Arbeit für die Expedition,
welche sich über Erwarten in die Länge zog und durch ausnehmend
ungünstige Witterungsverhältnisse besonders anstrengend gemacht
wurde.
Trotzdem die Zahl der Expeditionsteilnehmer zusammen mit den
Besatzungsmitgliedern der Alexandrine und dem in Melbourne
noch angeheuerten Hilfspersonal auf insgesamt 22 Mann angewachsen
war, dauerte der Aufbau der Station sechs Wochen, da wegen des oft
stürmischen Wetters der größte Teil der Mannschaft dann zur Sicherung
des Schiffes an Bord bleiben musste.
Der Auckland-Archipel liegt etwa 500 km südlich der Südinsel Neuseelands.
Die als Lager- und Beobachtungsplatz von Seeliger ausgesuchte
Terror Cove befindet sich im nördlichen Teil der Hauptinsel
in Port Ross, einem natürlichen Hafen.
Mitglieder der Expedition beim Aufbau von Unterkünften und
Beobachtungsstationen (Seeliger: zweiter von links).
Vor der Rückreise wurden im roten Backsteinpfeiler des zur
Zeitbestimmung erforderlichen Passageinstruments die Worte
German Expedition 1874 eingemeißelt.
Der Pfeiler ist das einzige, heute noch vorhandene Relikt von
Seeligers Camp.
![[Teilnehmer der Expedition]](03_Auck3_.jpg)
Teilnehmer der Expedition posieren für Erinnerungsphotos.
Seeliger (untere Reihe links bzw. links neben dem Instrumentenpfeiler)
fällt dabei mit seinen lustigen Kopfbedeckungen auf.
Die etwa fünfeinhalb Stunden dauernde Zeitspanne des Transits am
9. Dezember, auf die sich alle Arbeit und Mühe fokussiert hatte,
wurde von Hermann Krone (1827–1916), dem Photographen der Expedition,
der seine Erlebnisse auf der Auckland-Insel später in Zeitschriften
und Büchern vermarktete, in der Art eines homerischen Epos dargestellt:
Nachts ein Uhr halten Concilium wir und dürfen bestät’gen dass
Alles bereit für die Beobachtung des Venusdurchgangs.
Alles stimmt nach Wunsch bis auf den Regen, der in Strömen
herabrauscht.
So ist’s in der Nacht, so auch am Morgen des großen Tages, des
neunten Dezember.
Jetzt hat sich der Nebel da und dort gelichtet – Ein feiner Regen
nur stiebt noch hiernieder.
Hurrah, ihr Freunde – Da, schaut da hinüber:
ein sonniger Streifen auf der Ocean-Insel.
Und Jetzt bei uns auch Sonne!
Sonne!!!
. . .
Vorüber für diesmal!
Noch war die Sonne durch flockige Schleier schnell eilender Wolken
zu sehen, zu messen beim letzten Austritt.
Zwei Minuten danach war alles trübe und in kurzer Zeit begann es zu
regnen – und es stürmte und regnete neun Tage hindurch.
Mit beispiellosem Glück war unsere Beobachtung vom Himmel begünstigt,
denn es fehlte nur wenig, so wär unsere Reise vergeblich gewesen.
Das Glück war wirklich beispiellos , wenn man bedenkt, dass
es auf den Auckland-Inseln im Mittel an 27 Tagen im Monat bei Winden
mit gewöhnlich mehr als 60 km/h regnet.
Bei der Beobachtung des Durchgangs wurde neben einem Heliometer und
zwei kleineren Refraktoren, die der klassischen Messmethode dienten,
auch ein Heliograph eingesetzt, der eine photographische Aufzeichnung
erlaubte.
Insgesamt konnten 115 Platten aufgenommen werden, von denen sich
jedoch nur 30 als brauchbar erwiesen, da der weitaus größte Theil
der Aufnahmen ganz übermässig durch Luftwallungen verzerrte Bilder
gelifert hatte.
Ein Passageinstrument, mit dem am 1. Februar 1875 auch eine
wichtige Längenbestimmung des Beobachtungsortes gelang, diente zur
Zeitbestimmung durch Messung der Sonnenhöhen.
Die fertige Beobachtungsstation an der Terror Cove mit
(v. l. n. r.) Wohnhaus, Photoheliographen-, Refraktor- und
Heliometerturm.
![[Der Fraunhofersche Photoheliograph]](06_Auck6_.jpg)
Der Fraunhofersche Photoheliograph war ein spezieller Refraktor zur
Sonnenphotographie.
Das Kuppeldach des aus Eisen gefertigten Beobachtungsturms wurde aus
Segeltuch genäht, da die Anfertigung der Holzbedachung zu viel Zeit
in Anspruch genommen hätte.
Welche Bewandtnis es mit den vielen am Boden des Kuppelbaus
abgestellten Flaschen hat, ist nicht überliefert.
Vielleicht bestand ihr Inhalt ja auch nur aus Entwicklerflüssigkeit.
Das rechte Bild zeigt eine der 115 Photographien, die während des
Transits mit dem Heliographen erhalten wurden.
Die Platten wurden später im Astrophysikalischen Observatorium in
Potsdam aufbewahrt und gingen im Zweiten Weltkrieg während eines
Bombenangriffs verloren.
Ab Mitte Februar wurde dann mit dem Abbau der Station und der
Verpackung der Instrumente begonnen.
Am 6. März 1875, nach knapp fünf Monaten Aufenthalt an der
Terror Cove, wurden auf der Alexandrine die Segel
gesetzt und die Rückreise nach Melbourne angetreten.
Zur Weiterreise nach Europa benutzte man unterschiedliche Schiffe,
so zum Transport des Expeditionsmaterials den Dampfclipper
Durham, der nach Umrundung von Kap Hoorn nach 57 Tagen am
10. Juni 1875 London erreichte.
Im Laufe des Juni und Juli 1875 trafen dann alle Expeditionsteilnehmer
nach fast elfmonatiger Abwesenheit wieder wohlbehalten in Deutschland
ein.
Die Ergebnisse der photographischen Beobachtungen, die auch an den
anderen Stationen als damals modernste Methode zur Anwendung kamen,
erwiesen sich jedoch als große Enttäuschung.
Die Aufnahmetechnik hatte es mit sich gebracht, dass der Sonnenrand
schlecht definiert war und die Venusscheibe verzerrt erschien.
Der damit ermittelte Wert der Sonnenparallaxe besaß einen
derartig großen mittleren Fehler, dass man sich entschloss, bei der
bevorstehenden Kampagne zur Beobachtung des Transits vom 6. Dezember
1882 ganz auf die photographische Aufzeichnung zu verzichten und sich
wieder auf die klassische visuelle Methode zu beschränken.
Finanzielle Überlegungen spielten dabei jedoch auch eine
Rolle, denn während die Expeditionen des Jahres 1874 mit etwa
620 000 Mark zu Buche schlugen, konnte man bei einem
Verzicht auf die Photographie zusammen mit der Tatsache, dass die
optimalen Beobachtungen dieses Mal auf dem günstiger erreichbaren
amerikanischen Kontinent durchgeführt werden konnten, die Kosten auf
etwa 120 000 Mark senken.
Dieses Mal wurden insgesamt vier Expeditionen ausgerüstet:
Zwei in die Vereinigten Staaten von Amerika (Hartford/Connecticut und
Aiken/South Carolina), eine nach Bahia Blanca (Argentinien) und eine
nach Punta Arenas (Chile).
Darüberhinaus kam es zu einer weiteren Expedition, die von
der Deutschen Polar-Commission nach Südgeorgien, einer
subantarktischen Insel im Südatlantik, geschickt wurde.
An der vierköpfigen Expedition nach Hartford nahm auch Julius
Bauschinger teil, ein Student Seeligers, der zwischenzeitlich die
Leitung der Sternwarte in Bogenhausen übernommen hatte.
Die Gesellschaft reiste mit ihrer Ausrüstung (ein Heliometer, drei
Refraktoren und drei Beobachtungsgebäuden) am 15. Oktober 1882 mit
dem Dampfer Vandalia in Hamburg ab und erreichte New York
am 1. November.
Mit dem Zug ging es weiter nach Hartford, das etwa auf halbem Weg
nach Boston liegt.
Die Beobachtungsstation wurde dann auf dem Campus des dortigen Trinity
Colleges aufgebaut.
Am Tage vor dem Transit setzte nach einer längeren Zeit strenger
Kälte Tauwetter ein, es regnete in der Nacht und am Morgen war die
Sonne wegen des bedeckten Himmels nicht zu erkennen.
Etwa eine Stunde nach Beginn des Transits klarte es jedoch auf und
die Messungen konnten bis zum Austritt durchgeführt werden.
Dabei hatte Bauschinger die Aufgabe,
die dictirten Zahlen niederzuschreiben, die Uhrzeit für die
Einstellungen nach einem Chronometer zu notiren und dem Ableser am
Microskop aus einer vor ihm liegenden Tabelle der Positionswinkel
den für die nächste Einstellung etwa gültigen zuzurufen.
Die Expedition hatte keine besonderen Instrumente zur Orts- und
Zeitbestimmung mitgebracht, da die Lage des Beobachtungsortes ja
bekannt war und Zeitsignale zur Synchronisation der Uhren von der
Sternwarte des Yale College in New Haven empfangen werden konnten.
Es war daher keine längere Nachbereitungszeit erforderlich und schon
am 15. Dezember wurde mit dem Abbruch der Beobachtungsgebäude begonnen
und sechs Tage später die Rückreise angetreten.
Der eiserne Heliometerturm, der schon die Expedition zu den
Auckland-Inseln mitgemacht hatte, wurde dem Trinity College zum
dankbar angenommenen Geschenk gemacht, zur
Aufnahme für das dem College gehörige Instrument .
Die zur Beobachtung des Venustransits vom 6. Dezember 1882 vor dem
Trinity College in Hartford (Connecticut/USA) errichtete
deutsche Station.
Das Gebäude in der Mitte stammte von der Auckland-Expedition und
beherbergte das Heliometer.
Der 22-jährige Julius Bauschinger, ein Student Seeligers, nahm als
Hilfskraft an der Kampagne teil.
Das Bild zeigt ihn im Hintergrund bei der Niederschrift
dictirter Zahlen am Heliometer.
Der Berliner Astronom Arthur v. Auwers (1838–1915) kümmerte sich
anschließend um die Reduktion aller Messergebnisse und die Publikation
der Resultate.
Schon bald erhielt er für seine Bemühungen allerhöchstes Lob.
Im Reichs-Anzeiger vom 9. Juli 1884 schrieb der Kaiser:
Unter Ihrer umsichtigen und hingebenden Oberleitung ist es gelungen,
der deutschen Wissenschaft in hohem Maße Erfolg und Würdigung zu
erringen auf einem Gebiete erdumfassender Veranstaltungen, auf welchem
Deutschland in früherer Zeit bei gleichartigen Anlässen gegenüber
den Leistungen anderer Nationen zurückgestanden hatte.
Das endgültige Werk, das dann im Zeitraum 1887 bis 1898 erschien,
umfasste sechs Bände mit insgesamt mehr als 3600 Seiten.
Aus den photographischen Messungen ergab sich ein Wert für die
Sonnenparallaxe von
8.″810
mit einem relativ großen Fehler von
0.″120.
Die etwas genaueren klassischen Messungen führten zu einem Wert von
8.″8796
bei einem Fehler von
0.″0320.
Dabei schließt der photographisch ermittelte Wert seines
großen Fehlers wegen den modernen Wert von
8.″794148
mit ein, während der mit dem geringeren Fehler um ca. 1% zu groß
erscheint.
Hier müssen wohl bei allen Expeditionen nicht erkannte, systematische
und instrumentelle Fehler aufgetreten sein.
Die anderen Nationen konnten aber auch keine konsistenten Resultate
aufweisen, denn ihre ermittelten Werte schwankten zwischen
8.″754
und
8.″911.
Da trotz des Engagements von Spezialisten aus aller Welt keine
überzeugenderen Ergebnisse erzielt werden konnten, wurden dadurch
offenbar die Grenzen der Genauigkeit dieses Verfahrens zur Bestimmung
der Sonnenparallaxe aufgezeigt.
Die Venusdurchgänge der Jahre 2004 und 2012 hatten dann auch keine
wissenschaftliche Bedeutung mehr.
Sie waren nur noch ein spektakuläres Ereignis für die Öffentlichkeit
und boten Anlass, das Interesse an Astronomie zu wecken.
Der exakte Wert der Astronomischen Einheit war schon in den Jahrzehnten
zuvor vor allem mittels Radarmessungen zu Nachbarplaneten und
Raumsonden ermittelt worden.
Der an der Preußischen Akademie der Wissenschaften in Berlin tätige
Astronom Arthur v. Auwers reduzierte alle Messergebnisse der
deutschen Expeditionen und fasste die Ergebnisse 1887 bis 1898 in
sechs voluminösen Bänden zusammen.
Das Bild zeigt das Titelblatt des 1898 erschienenen ersten Bandes
(Geschichte des Unternehmens und Actenstücke der Verwaltung),
den er als letzten publizierte.
Bildquellen:
Nr. 10: USM
Nr. 1–9: WWW
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